Kriya-Yoga in den Yogasutren

Bereits bei Patañjali findet sich eine Definition von Kriya-Yoga (sūtra 2.1):

tapaḥ svādhyāya īśvarapraṇidhānāni kriyā-yogaḥ 

Zumeist wird dieses sūtra analog sūtra 2.32 übersetzt und interpretiert (vgl. die Erklärung zur 2. Stufe des Astanga-Yoga), mit der Ausnahme, dass Patañjali hier die Reinheit (śauca) und Zufriedenheit (saṁtoṣa) nicht erwähnt. Kriya-Yoga, oder der Yoga der Tat (nach der Übersetzung vieler Kommentatoren der Yogasutren) wäre also praktisch identisch mit der zweiten Stufe des Astanga-Yoga (niyama). In der traditionellen Interpretation dieses sūtras durch die Lehrer des Kriya-Yoga, welcher 1861 vom legendären mahāyogi Babaji an Lahiri Mahasaya aus Varanasi (Benares) offenbart wurde, besteht ein kleiner, aber wichtiger Unterschied.

Tapas wird nicht nur als Selbstdisziplin oder Askese übersetzt, sondern auch als Glut, Hitze. Und Wärme haben wir im Körper, weil die Seele im Körper wohnt. Der Wohnort der Seele ist ātmāstān, oder das sechste cakra. Deshalb wird das sechste cakra auch tapa-loka genannt. Tapas bedeutet nun also, eine dauernde Verbindung mit ātmā, mit dem sechsten Zentrum (cakra) zu spüren.

svādhyāya bedeutet, wie wir bereits gesehen haben, Selbststudium, insbesondere das Studium (adhyāya) der eigenen Seele (sva). īśvara heisst Gott und praṇidhāna bedeutet Aufmerksamkeit, also bedeutet īśvarapraṇidhānāni Gott dauernde Aufmerksamkeit (Liebe und Hingabe) zu geben.

Das gesamte sūtra gibt die Instruktion, was Kriya-Yoga ist: Kriya-Yoga bedeutet, immer die Gegenwart ātmās im sechsten cakra zu fühlen, auf diese Weise mit jedem Atemzug das Selbst zu studieren und Gott in allem zu sehen.

Alle Übungen des Astanga-Yoga basieren darauf, dass das Bewusstsein in Verbindung mit ātmā im ājñā cakra (dem sechsten Chakra) bleibt. Er ist der wahrhaft Handelnde und wenn der Übende erkennt, dass nicht er als Mensch sondern Er als ātmā alle Übungen ausführt, dann erst stellt sich der spirituelle Erfolg ein.

Dieselbe Erklärung erhält man auch durch die Wortbedeutung des Begriffs „Kriya-Yoga“: kṛbedeutet tun,  heisst Seeleund wie oben beschrieben ist yoga Einheit. Alle Handlungen werden in Einheit mit der Seele gemacht. Jede Handlung soll mit Atma gemacht werden. Doch was heisst das? Jede körperliche Funktion ist abhängig vom Atem, welcher den Körper am Leben erhält. Der Atem wiederum wird kontrolliert von Atma. Also ist jede Handlung im Wesentlichen Atmas Handlung.

In der Kriya-Yoga-Tradition wird auf diese Weise jede Handlung (karma) dem göttlichen Selbst – Atma – hingegeben. ER ist der in Wahrheit Handelnde. Aus dieser Einstellung gibt Atma dem menschlichen Wesen tieferes Verständnis und Wissen (jñāna) über alle Dinge dieser Welt, über die alltäglichen weltlichen Dinge und die spirituellen Aspekte des Lebens. Dieses tiefere Verständnis wiederum führt zu mehr Liebe und Hingabe (bhakti) zum Schöpfer und Seiner Schöpfung.

In dieser Tradition ist sich der Lehrer bewusst, dass es nur einen einzigen Lehrer im gesamten Universum gibt – Gott selbst. Und Gott selbst ist im Inneren eines Schülers genau so aktiv wie er im Innern eines Lehrers. Die Aufgabe des (äusseren) Lehrers ist, dem Schüler den Weg zu zeigen zu seinem eigenen, inneren Lehrer oder Guru. Und das erreicht er am Besten durch sein eigenes Vorbild.

Ihnen stellt sich vielleicht die Frage wie es sein kann, dass Rishi Patañjali ca. 200 n. Chr. über Kriya-Yoga geschrieben hat, Babaji jedoch erst 1861 die Kriya-Yoga-Technik seinem Schüler Lahiri Mahasaya offenbarte. Nun, alle Meister, Yogis und Erleuchteten aller Zeiten haben Kriya-Yoga praktiziert. Kriya-Yoga ist nichts anderes, als die vollkommene Einheit mit dem Schöpfer in jeder Handlung bewusst wahrzunehmen. Und Rishi Patañjali war ein grosser Meister, der sich dessen vollständig bewusst war – genau so wie Babaji.

Es bleibt zu sagen: Kriya-Yoga ist eine geheime Technik. Weder Babaji noch Rishi Patañjali haben die eigentliche Kriya-Yoga-Technik beschrieben. Die Technik kann nur von einem autorisierten Lehrer weitergegeben werden.

 

Weitere Informationen über die Tradition der Kriya-Yoga-Lehrer (Guruparampara) finden Sie auf www.yogidhirananda.ch.