Stufe: Pranayama

Es folgt als vierte Stufe die Kontrolle (yama) der Lebensenergie (prāṇa) also prāṇāyāma(sūtra 2.49):

tasmin sati śvāsa-praśvāsayor gati-vicchedaḥ prāṇāyāmaḥ 

Wenn man darin (der Sitzhaltung der dritten Stufe) gefestigt ist, erfolgt die Kontrolle über prāṇa durch Unterbrechen der Ein- und Ausatmung. Durch die richtige Atmung ist der Yogi in der Lage, die kosmische Lebensenergie zu speichern. Die richtige Atmung heisst, den ganzen Tag richtig und bewusst zu atmen – nicht nur während den Atemübungen. Paramapadma Dhiranandaji empfiehlt dazu

die Kehlkopfatmung:

man konzentriert sich beim Ein- und Ausatmen auf den Kehlkopf und stellt sich vor, dort ein- und auszuatmen. Dadurch atmet man ruhiger und ist in der Lage, mit jedem Atemzug mehr Sauerstoff aufzunehmen und Kohlendioxid abzugeben. Durch die Konzentration der Atmung auf den Kehlkopf (statt auf die Nase) entspannen sich der Kehlkopf und dadurch automatisch auch das Zwerchfell, wodurch der gewünschte Effekt eintritt. Im Alltag braucht der Yogi dadurch weniger Kraft für seine Tätigkeiten.

Mit Atemübungen trainiert der Yogi seine Atemorgane und kann seinen Organismus mit neuer, frischer Energie versorgen. Ohne spezielles Training der Atmung benutzt der Mensch rund fünf bis sieben Prozent seiner eigentlichen Atemkapazität. Man kann sich nun vorstellen, welche Energie dem Yogi zur Verfügung steht, wenn er diese Kapazität ausbauen kann.

Die Wirkungen der Atemübungen sind sehr vielseitig. Neben dem Training der Atemkapazität ist allen Atemübungen gemeinsam, dass sie eine reinigende Wirkung haben und helfen, den Geist zu kontrollieren. Patañjali beschreibt diesen Effekt in sūtra 2.48 und 2.49: Erfolg in prāṇāyāma bedeutet, dass sich der Schleier der Unwissenheit entfernt wird und der Yogi die Fähigkeit zur Konzentration des Denkens erhält.

Die Seele kontrolliert den Atem, der Atem kontrolliert den Geist, der Geist kontrolliert die Sinnesorgane. Durch die Atemübungen kommen die Gedanken und Gefühle zur Ruhe, der Geist wird von unnötigem Ballast befreit und gereinigt. Dadurch erhält der Yogi die erwähnte Fähigkeit zur Konzentration.

Mit dem Schleier der Unwissenheit ist māyā gemeint, die Illusion oder Täuschung, welche die wahre Natur des Menschen und des Universums verschleiert. Im Normalfall nehmen wir die äussere Welt durch unsere Sinnesorgane wahr. Die Eindrücke der Sinnesorgane werden an das Gehirn weiter geleitet und die Reize durch das Zusammenspiel von Ego und Intelligenz weiter verarbeitet. Da sich aber die gesamte Welt in einem permanenten Veränderungsprozess befindet, ist es nicht möglich, eine absolute Wahrheit mit unseren Sinnesorganen zu erkennen. In Wahrheit liegt jedem Menschen, jedem Tier, jeder Pflanze und auch der unbelebten Natur eine göttliche Substanz zugrunde. Diese göttliche Substanz ist ātmā, die göttliche Seele. Sie zu erkennen und dadurch sich selbst zu erkennen, ist das Ziel des menschlichen Lebens. Sobald der Geist ruhig wird lichtet sich auch der Schleier der māyā.